Wenn der Wetterbericht ein Azorenhoch ankündigt, frohlocken die meisten Menschen hierzulande. Schließlich sorgt das Hochdruckgebiet im Sommer für strahlenden Sonnenschein und blauen Himmel auf dem europäischen Festland. Das die Azoren eine einsame Inselkette im Nordatlantik sind und politisch zu Portugal gehören, wissen viele Menschen aber dennoch nicht. Erstaunlich, wurde der Archipel doch erst in kürzlich von der Europäischen Union zur Region des Jahres gekürt.
Der renommierte National Geographic Traveller adelte den Archipel neulich gar zur zweitschönsten Inselgruppe der Welt. Und zwar wohlgemerkt weit vor den üblichen Verdächtigen wie den Seychellen oder den Tropenparadisen der Karibik. Wie kann es also sein, das die Azoren bis heute ein touristisches Schattendasein fristen und unter Travellern und Globetrottern nach wie vor als Geheimtip gelten?
Vielleicht ist es einfach die einsame Lage der Inselkette fernab vom Festland, gut versteckt in den Weiten des Atlantischen Ozeans? Immerhin 1.500 km trennen die Inselgruppe im Osten von Europa und 3.500 km im Westen von Nordamerika. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass viele Pauschalreiseanbieter bis heute einen weiten Bogen um den Archipel machen? Denn die Azoren gelten nicht eben als Sonnenziel. Das mag im ersten Augenblick etwas überraschend sein. Tatsächlich entsteht das berühmte Azorenhoch zwar über dem Archipel, sorgt dann aber lieber andernorts für sonniges Wetter. Das hatte ich zwar gelesen, aber schnell wieder aus meinem Gedächtnis verdrängt. Die Erinnerung kam vor Ort.
Flores im Sommer 2011. Gedanken verloren nippe ich an meinem Galão. Schaue etwas wehmütig aus dem beschlagenen Fenster des kleinen Hafencafés. Die dunklen Lavaklippen glänzen im strömenden Regen. Es ist drückend schwül, der dichte Lorbeerwald oben in den Bergen dampft vor Feuchtigkeit. Ein gewaltiger Wasserfall brettert einige Meter weiter mit lautem Getöse die Steilwand hinab. In weiter Ferne kann ich die kleine Felseninsel Monchique im Nebel erahnen. Das winzige Basalteiland ist der westlichste Punkt Europas, markiert das Ende des Kontinents. Vielleicht sogar der Welt. Zumindest wähne ich mich gerade genau dort.
In Faja Grande. Das ist ein etwas irreführender Name für dieses beschauliche Dörfchen am Ende Europas. Denn groß ist hier nichts auf der Landzunge aus Lava. Zwei Cafés, ein Dorfkiosk, eine Kirche und drei dutzend Häuser, von denen viele längst verlassen sind. Nicht einmal 200 Einwohner, grasende Kühe auf den steingesäumten Terrassen und ein paar Aussteiger. Und ich. Zwar bin ich erst seit 5 Tagen hier, gelte aber schon als Stammgast im Café. Denn seit meiner Ankunft haben sich meine Entdeckungspläne täglich in den dicken Regentropfen ertränkt, die fast unermüdlich vom Himmel prasseln.
Gegenüber dösen zwei rundum tätowierte, bärtige Seeräuber über ihrem Sagres-Bier. Verfolgen träge eine verrauschte Fußball-Übertragung vom Festland. Nur selten kommentiert der eine nuschelnd die Spielkünste der Benfica. Für mehr Emotionen ist Portugal viel zu weit weg. Aber auch sonst geht es bei den Insulanern gemächlich zu. Das Wetter bestimmt ohnehin den Tagesablauf, damit hat man sich im Laufe der Jahrhunderte abgefunden. Eigentlich müssten die beiden Fischer jetzt weit draußen auf dem Atlantik sein, um ihr rares Auskommen zu sichern. Aber bei dem Unwetter ist die Ausfahrt zu gefährlich. Meine geplante Wanderung auch.
Joaquin scheint meine Gedanken zu lesen. „Auf den Azoren“, muntert mich der freundliche Cafébesitzer auf, „ist es völlig normal, dass alle 4 Jahreszeiten an einem einzigen Tag vorkommen.“ Das ist natürlich etwas übertrieben, wird es doch auf den subtropischen Azoren niemals Winter geben. Aber in der Tat ist das Wetter sehr unberechenbar und äußerst wechselhaft. Eine andere azorische Weisheit lautet deshalb, so Joaquin: „Wenn dir das Wetter nicht gefällt, warte einfach eine Stunde.“ Scheint aber nicht immer zu funktionieren. Und so räumt Joaquin ein, dass hier eigentlich niemand das Wetter voraussagen kann, nicht einmal die Insulaner selbst. „Das Wetter macht hier eben einfach was es will.“ Das glaube ich ihm sofort.
Spätestens jetzt ist mir klar, warum Reisebüros lieber anderen Destinationen den Vorzug geben. Zumal es auf den Azoren, obwohl von Meer umgeben, auch keine verlockenden hellen Sandstrände mit Ausnahme der goldenen Buchten auf Santa Maria gibt. Ein Nachtleben existiert ebensowenig, wenn man von der Hauptstadt Ponta Delgada und der Seglermetropole Horta einmal absieht. All dies lässt sich dem verwöhnten All-Inclusive-Touristen sicherlich eher schwierig vermitteln.
Umso besser für alle Naturbegeisterten, Wanderer und Freunde individueller Reisen. Sie haben das Inselparadies das ganze Jahr fast für sich alleine. Erst recht, wenn sie die Hauptinsel São Miguel erst einmal verlassen haben. Sie können in aller Ruhe und fernab von Massentourismus die dramatischen Naturkulissen entdecken. Wenn das Wetter denn hoffentlich mitspielt. Denn zu entdecken gibt es viel.
Vulkanische Kräfte und atlantisches Klima haben hier beeindruckende Landschaften und eine einzigartige Flora geschaffen. Berauschendes Grün in allen erdenklichen Nuancen ist die vorherrschende Farbe. Subtropisches Klima, der Einfluss des warmen Golfstroms und die fruchtbaren vulkanischen Böden sorgen dafür, dass Pflanzen aus aller Welt sich hier zu Hause fühlen. Riesenfarne und tropische Palmen, Bambus und Lorbeerbäume, Ingwer und farbenfrohe Hortensienhecken, die weit über 5 Meter hoch werden können. Letztere stammen eigentlich aus Asien und wurden erst im 19. Jahrhundert eingeführt. Auf Grund ihrer Ominpräsenz sind sie aber mittlerweile zum Wahrzeichen der Azoren geworden.
Die Inseln sind auch ein El Dorado für Berg- und Vulkanbegeisterte. Mit den Azoren ragen immerhin die höchsten Gipfel des Mittelatlantischen Rückens aus dem Ozean. Sie bilden die insgesamt neun Inseln des Archipels mit den wohlklingenden Namen Santa Maria, São Miguel, Terceira, Gracioso, São Jorge, Pico, Faial, Corvo und Flores.
São Miguel ist die größte und bevölkerungsreichste Insel und zugleich die abwechslungsreichste. Sie beheimat die hübsche Azoren-Hauptstadt Ponta Delgada und ist das touristische Zentrum der Azoren. Mit dem internatioanalen Flughafen ist São Miguel der erste Anlaufpunkt für alle Azoren-Besucher. Weltbekannt ist der Blick auf die beiden Vulkanseen Lagoa Verde und Lagoa Azul, die beide in der Caldeira Sete Cidades liegen. Der Anblick des grünen und blauen Sees, eingerahmt in steile, sattgrüne Kraterwände und leuchtende Hortensien am Kraterrand ist wahrlich erhebend. Kein Wunder, dass der bekannteste Aussichtspunkt als Vista do Rei (Blick der Könige) bekannt geworden ist. Wenn er denn zu sehen ist. Denn allzu oft versperren dichte Nebelschwaden den königlichen Blick. Neblig, wenn auch aus völlig anderem Grund, ist es auch im östlichen Hochland. Dort locken vulkanische Phänomene. Die Erde dampft, rumort und blubbert, das Essen kommt bevorzugt aus dem Erdofen. Die unterirdisch gekochte, lokale Eintopfspezialität Corizo sollte man unbedingt einmal probieren. Im tiefeingeschnittenen Tal von Furnas lockt auch das warme, rostrote Thermalbad inmitten des tropischen Parque Terra Nostra. Mindestens ebenso farbenfroh ist der Spaziergang um den quietschgrünen Lagoa das Furnas.
Santa Maria ist das südlichste Azoren-Eiland und auch das mit dem südlichsten Flair. Ist sie doch die einzige Azoren-Insel, die mit hellen Sandstränden, mildem Klima und den meisten Sonnenstunden aufwarten kann. Wer also Badefreuden sucht, aber keine Lust auf überfüllte Mittelmeer-Strände hat, ist hier genau richtig.
Terceira wiederum ist für die kulturellen Highlights bekannt. Im 16. Jahrhundert wurde hier mit Angra de Heroismo der erste Bischofsitz der Azoren gegründet. Die mittelalterliche Stadt wuchs schnell zu einem Handelszentrum. Portugiesen und Spanier legten hier mit ihren reich beladenen Karavellen an. Die auf ihren Entdeckungsfahrten erbeuteten Schätze wurden auf Terceira gegen Proviant und Trinkwasser getauscht. Noch heute zeugen prunkvolle Adelspaläste und Bürgerhäuser, trutzige Festungen, prächtige Kirchenbauten und Klöster von diesem goldenen Zeitalter. Im Jahr 1980 wurde Angra durch ein heftiges Erdbeben fast vollständig zerstört, dann aber voller Hingebung und mühevoll wieder aufgebaut. Bereits drei Jahre später nahm die UNESCO die wieder auferstandene Stadt in das Weltkulturerbe auf.
Das lebhafte Faial ist vor allem Wassersportlern ein Begriff. Die internationale Seglergemeinde gibt sich ein Stelldichein im bekannten Yachthafen von Horta. An der Hafenmauer zeugen tausende von kunstvollen Wandgemälden von den segelnden Gästen aus aller Welt. Es ist eine alte Tradition, dass jede Crew die hier anlegt, ein malerisches Andenken hinterlässt. Und so ist irgendwo immer irgendwer gerade mit dem Farbtopf zugange. Nach vollbrachter Arbeit geht es dann meist direkt ins Peter´s Café Sport. Die Hafenkneipe ist eine Institution und trotz oder gerade wegen der Lage mitten im Zentralatlantik grundsätzlich überfüllt. Immerhin wird hier der angeblich leckerste Gin-Tonic im Umkreis von 2.000 Seemeilen ausgeschenkt. Wer genug vom quirligen Trubel Hortas hat, bestaunt die Naturwunder der Insel. Beeindruckend ist ein Blick in die riesige Caldera in der Inselmitte, die in einer gut dreistündigen Wanderung am Kraterrand entlang auch umrundet werden kann. Der Vulkan Capelinhos im Westen gehört hingegen ursprünglich gar nicht zu Faial, sondern brodelte gut einen Kilometer vor der Insel unter dem Atlantik. Beim letzten heftigen Ausbruch im Jahr 1957 entstand eine neue Insel, die sich durch den 2 Monate währenden Ascheregen schließlich mit Faial verband. Die Auswirkungen der Eruptionen waren verheerend. Es gab eine über 1000 Meter hohe Aschewolke, wochenlange Explosionen und Erdbeben. Hunderte Häuser wurden komplett zerstört, tausende Menschen wurden umgesiedelt, viele verschreckte Insulaner verließen die Azoren für immer. Heute zeugt nur noch die bizarre rotbraune Aschewüste von den dramatischen Ereignissen.
São Jorge liegt wie ein langer Speer im Meer und zieht vor allem Wanderer und Trekking-Begeisterte an. Ein 56 km langer, schmaler Gebirgsrücken ragt hier steil aus dem Atlantik und erhebt bis auf gut 1.000 Meter. Kein Wunder, dass die Insel für grandiose Ausblicke berühmt ist. Die Insel zieht auch Vogelfreunde und Ornithologen an. Die seltene Gelbschnabelsturmtaucher nisten besonders auf dieser Insel zu Zehntausenden und unüberhörbar in den steilen Klippen und veranstalten allabendlich ein fürchterliches Geschrei.
Graciosa ist wieder ganz anders. Ihren Namen verdankt die Insel ihren sanften, anmutigen Formen und der nur leicht hügeligen Landschaft. Typisch für das flache Eiland sind die weißgetünchten Häuser und Windmühlen mit ihren roten Turmhäubchen. Die Hauptattraktion der Insel ist aber ihre uralte, tiefe Schwefelgrotte Furna do Enxofre. Über eine lange Treppe steigt man hinab in die Lavahöhle, unten blubbert ein Kratersee, von oben fällt etwas Tageslicht in die Grotte und lässt sie in mystischem Licht erstrahlen.
Das Markenzeichen der Insel Pico ist der gleichnamige Vulkan, der in ihrer Mitte 2.351 Metern in die Höher ragt. Der höchste Berg Portugals schmückt sich trotz des milden Klimas regelmäßig mit einer Schneehaube. Auf den vulkanischen Hängen gedeihen schwere, aromatische Rotweinreben prächtig. Pico ist auch eines der wichtigesten Zentren für Walbeobachter in Europa. Gut 50 verschiedene Arten wie Pottwal, Buckelwal, Blauwal, Pilotwal und sogar Orcas fühlen sich im durch den Golfstrom aufgewärmten Wasser wohl. Seit den 1990er Jahren hat sich auf Pico ein sanfter Waltourismus herausgebildet. Nicht immer war der nachhaltige Umgang mit den die sanften Meeresriesen selbstverständlich. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert hinein war der Walfang ein wichtiger Wirtschaftszweig auf den Azoren.
Gut zwei Flugstunden von der Zentralgruppe entfernt warten schließlich die beiden westlichsten Inseln Flores und Corvo auf ihre Entdeckung. Politisch gehören sie zwar noch zu Europa, geologisch sind sie aber bereits dem nordamerikanischen Kontinent zuzuordnen.
Flores, der wohklingende Namen lässt es bereits erahnen, ist die Insel der Blumen. Spätestens wenn im Juli die Hortensienblüte einsetzt, leuchtet die ganze Insel in weiß, vioelett und rosa. Das es hier überall grünt und blüht ist dem Umstand zu verdanken, dass Flores die feuchteste und regenreichste der 9 Azoreninseln ist. Kein Wunder, dass überall Quellen, Bäche und Flüsse, Wasserfälle und Kaskaden, Moore und Seen den Besucher in der Einsamkeit entzücken. Die bunte Flora kontrastiert mit bizarren Felsformationen, schroffen, hunderten Metern steil aufragenden Klippen, aus denen unzählige Wasserfälle tief hinabstürzen. Alte Wassermühlen, verlassene Lavasteinhäuser, die winzigen, unbewohnten Felseninseln vor der Küste, uralte Lorbeerwälder und die sieben verschieden farbigen Kraterseen machen die Insel zu einem Paradies für Naturfreunde und Wanderer. Mit dem Schiff oder Kanu kann man an der Steilküste entlang zahlreiche tiefe Grotten entdecken, in denen früher Freibeuter Unterschlupf gesucht haben.
Und dann gibt es noch das Mini-Eiland Corvo. Corvo besteht eigentlich aus nicht mehr als dem einst ausgebrochenen Vulkan Monte Gordo mit etwas Land darum. Das Inselchen ist gerade einmal 17 km2 klein. Im Inselinneren wartet die gewaltige Caldeira auf ihre Entdeckung. Über 700 Meter hoch sind die steilen Kraterwände und beherbergen einen überirdisch anmutenden See. In 2 bis 3 Stunden ist man nach oben gewandert. Die meisten kommen genau deshalb hierher. Wer es gern sehr einsam mag, kann auf Corvo aber auch in einem der Handvoll Zimmer übernachten. Wenn er es dies nicht sowieso zwangsläufig machen muss. Denn oft wird der Fährverkehr nach Corvo bei schlechtem Wetter eingestellt und das Eiland ist dann völlig von der Außenwelt abgeschnitten.
Bem vindo – willkomen am wilden Ende von Europa.