Schneeflocken tanzen Pirouetten vor meinem Fenster. Endlich. Der Winter hat sich dieses Mal viel Zeit gelassen. Nun ist er doch noch gekommen und hat die heimische Natur in eine puderweiße Märchenlandschaft verwandelt. Für das erste Bild des Monats in diesem Jahr habe ich deshalb ein winterliches Motiv herausgesucht.
Fast scheint es, als sei der isländische Winter 2013 dem deutschen Wetter der letzten Wochen ein großes Vorbild gewesen. Als ich Anfang März in Reykjavik landete – ich war natürlich für Winterbilder in den hohen Norden geflogen – traute ich meinen Augen kaum. Arktische Temperaturen erwartend, lief ich dick eingepackt die Gangway der Iceland Air Maschine herunter. Ich war noch nicht im Terminal angekommen, da hatte ich Mütze, Schal und Daunenjacke schon von mir gerissen. Sonnenschein und blauer Himmel gaben sich ein Stelldichein über der isländischen Hauptstadt. Weiße Winteridylle? Fehlanzeige.
Und das kurz unterm Polarkreis. Etwas enttäuscht ob der regelrecht balearischen Bedingungen war ich schon. Das verrückte Wetter hatte aber auch sein Gutes. Denn ich war auch wegen der Aurora Borealis nach Island gekommen. Noch in derselben Nacht konnte ich die ersten Nordlichter fotografieren – der Himmel war klar und wolkenlos.
Einige Tage später konnte von T-Shirt-Wetter keine Rede mehr sein. Es schneite unablässig, heftige Winterstürme legten den Verkehr im Süden Islands lahm, Straßen wurden gesperrt. Im Radio hörten wir gar, dass bei Jökulsarlon, der legendären Gletscherlagune, Eisbrocken durch die Luft geflogen wären. Zerbrochene Autofenster und zerbeulte Karosserien waren zu beklagen. Unsere bunt zusammen gewürfelte Fotografentruppe – zwei Amerikaner, ein Brite, zwei Schweden und wir zwei Deutschen – saßen unterdessen seit zwei Tagen in der Nähe von Höfn fest. An die geplante Weiterfahrt gen Westen war erst einmal nicht zu denken. Geschweige denn an ausgedehnte Fototouren im Freien. Es blieb uns also wenig anderes übrig, als es uns in der kleinen angemieteten Blockhütte gemütlich zu machen.
Nachdem wir uns die letzten Nächte auf der Jagd nach Nordlichtern um die Ohren geschlagen hatten, war unser aller Schlafkonto deutlich im Soll. Also nutzten wir die unfreiwillig gewonnene Zeit zum Ausschlafen, Bilder sichten, Ausrüstung säubern. Gegen Nachmittag des zweiten Tages wurden wir dann aber doch etwas unruhig. Schließlich waren wir zum Fotografieren hergekommen. Ungefähr 15 Kilometer von Höfn liegt die Landzunge Stokkness. Bisher kannte ich die beeindruckende Landschaft dort nur von den Bildern anderer Kollegen. Und ich war mir gerade alles andere als sicher, ob sich das nach meinen Heimflug geändert hätte. Unsere Blicke schweiften zum Fenster. Schneeflocken sahen wir nicht. Stattdessen fielen weiße Schnee-Spagetti hektisch vom Himmel. Wir sahen uns fragend an. Offensichtlich hatten wir alle denselben Gedanken.
Fünf Minuten später schlingerte unser klappriger Toyata-Bus hinaus in das grellweiße Nichts. Silhouetten von Strommasten und Bäumen schüttelten sich bedrohlich im Sturm. Von der Straße war kaum etwas zu sehen. Es schien, als seien wir samt Bus in einem riesigen weißen Cocoon gefangen. Der Blizzard rüttelte wütend an unserem altersmüden Gefährt, dass die Unbilden mit einem gequälten Ächzen quittierte.
Insgeheim war ich froh, dass Jonathan den Fahrdienst übernommen hatte. Der US-Kollege ist der Inbegriff amerikanischer Coolness. Mit stoischer Ruhe manövrierte er uns durch die gefühlte (oder echte?) Windstärke 10. Nach vielleicht 25 Minuten im Schneckentempo hatten wir unser Ziel erreicht. So verriet es wenigstens das Navigationsgerät. Denn von der Halbsinsel war wenig zu sehen. Das Meer und den Strand, welche einige hundert Meter vor uns liegen mussten, erblickten wir auch nicht.
Abwarten hieß das Gebot der Stunde. Zum Glück funktionierte die Heizung ganz gut. Wir warteten und warteten. Schließlich enthüllten die dunklen Wolken für einige Augenblicke das steile Bergmassiv direkt vor uns. Das Klifatindur überragt mit fast 900 Metern die Halbinsel. Unser fragiler Bus zitterte indes weiter im Sturm. Die anderen wollten schon umkehren. Doch ich bat sie, noch etwas zu warten.
Immer wieder lichtete sich für einige Sekunden der graue Vorhang, enthüllte peu á peu das zerklüftete Gebirgsmassiv. Irgendwann gaben die Wolken dann auch den Blick auf eine trostlose Ebene pechschwarzen Vulkansands vor uns frei. Darüber ragte das Vestrahorn gleich einer trutzigen Burg steil in die schweren Wolken. Der Gipfel ist die markanteste Erhebung dieser Bergkette. Das gedämpfte Licht und die monochrome Farbe verliehen der Szenerie etwas Mystisches. Wer mich und meine Bilder kennt, der weiß, genau das liebe ich. Ich wurde schlagartig hellwach. Die Landschaft schien direkt der düsteren Kulisse eines Fantasyfilms zu entstammen. Noch bevor ich das erste Foto gemacht hatte, fiel mir bereits ein passender Titel dafür ein: „Dark Fortress“.
Jetzt musste das Foto aber auch gemacht werden. Ich wickelte meine Kamera zum Schutz in eine dünne Regenhülle, schnappte mein Stativ und zog die Wagentür auf. Für einem Moment hatte ich das Gefühl, sie würde just aus ihren Angeln gerissen und ich gleich mit ihr. Zu zweit schafften wir es, die Tür wieder zuzuschieben. Einer von draußen, einer von drinnen.
Die anderen zogen es nämlich vor, im Wagen zu bleiben. Vielleicht keine so schlechte Idee.. Als ich endlich draußen stand, konnte ich kaum die Augen aufhalten. Feiner, schwarzer Sand peitschte durch die Luft und verpasste meiner Haut ein Natur-Peeling. Es war so windig, das ich mich am Bus festhalten musste. Die Rückseite des Wagens war einigermaßen geschützt, so dass ich hier „in Deckung“ ging. Das Stativ hätte ich mir sparen können, an einen Aufbau war ohnehin nicht zu denken. Um mit der D800 auch freihand einigermaßen scharfe Fotos zu bekommen, stellte ich schnell eine sehr kleine Verschlusszeit ein.
Immer wenn die Wolken den Blick freigaben, stürmte ich aus meiner Deckung und drückte ab. Katze- und Maus-Spiel mit der Natur. Nach einigen Minuten wurde es mir dann aber zu anstrengend. Der Lärm war ohrenbetäubend. Mein Gesicht fühlte sich an, als hätte es jemand mit Stecknadeln drappiert. Wie Schmirgelpapier hatte der Sand an allem gefeilt, was nicht geschützt war und sich in Nase, Ohren und Haaren festgesetzt.
Als ich gerade einsteigen wollte, entdeckte ich vor dem Bus eigentümliche, schwarz-weiß marmorierte Gesteinsblöcke: Obsidian. Geologen würden jetzt sagen, dass es Glasblöcke waren. Denn der Rabenstein (hrafntinna), wie ihn die Isländer nennen, ist genau genommen ein vulkanisches Glas, dass bei rascher Abkühlung von Lava mit einem geringem Wasseranteil entsteht. Auf Grund der starken tektonischen Aktivität in der Inselgeschichte ist Obsidian hier immer wieder zu finden. Zuletzt hatte ich es in Landmannalaugar gesehen.
Die Formen des Obsidians faszinierten mich. Vor allem würden sie sicherlich einen schönen Vordergrund für das Vestrahorn abgeben. Verschwommene Gesichter klebten an der beschlagenen Autoscheibe. Wahrscheinlich fragten sie sich gerade, was ich hier draußen eigentlich noch mache. Sorry Freunde, ich muss noch mal in die Deckung..