Spätherbst in den Stubaier Alpen. Der oktoberliche Nachtwind pfeift um die trutzigen Mauern der Franz-Senn-Hütte. Das geheimnisvolle Klappern der hölzernen Fensterladen wird jäh unterbrochen. Schrill und unbarmherzig hallt der der Wecker durch die Bergnacht. Schlaftrunken blinzle ich auf das Display. 3.15 Uhr. Müssen wir wirklich schon raus? Wir müssen. Unser Ziel ist der Rinnensee auf 2.646 m. Und zwar vor Sonnenaufgang.
Wir kommen nur langsam in Trab. Die Kälte des Nachtquartiers steckt uns noch in den Knochen. Und wohl auch der gestrige Aufstieg aus dem Tal unter vollem Gepäck. Seilbahn? Fehlanzeige. Bis zur Hütte galt es auf 2.147 Meter zu steigen. Erst nach Einbruch der Dunkelheit waren wir angekommen. Die Vorfreude auf ein Rendezvous mit dem morgendlichen Rinnensee ist jetzt Espresso für die müden Glieder, lässt mich die viel zu kurze Nacht bald vergessen.
Seitdem ich diesen Ort vor einigen Jahren in einem zerfledderten Bergführer entdeckte, hatte mich die Szenerie in ihren Bann gezogen. Im Geiste malte ich mir aus, den einsamen Bergsee mit einer Spiegelung schneebedeckter Gipfel im Alpenglühen aufzunehmen. Einige Tage zuvor hatte ich den Ort und die Lichtverhältnisse mit Google Earth erkundet.
Der Herbst, so finde ich, ist die beste Jahreszeit für Fototouren in den Alpen. Es stellte sich aber heraus, dass für diese Location der gewählte Zeitpunkt eher ungünstig war. Es blieb nur ein kurzes Zeitfenster am Morgen, in dem die Berge von der Sonne touchiert werden. Dann müsste die aufgehende Morgensonne das Massiv der Alpeiner Berge für einige Minuten kurz aufleuchten lassen. Soweit die virtuelle Theorie. Die auch nur aufgehen konnte, wenn das Wetter mitspielen würde. Für das Foto musste es auch windstill sein und eine geringe Thermik vorherrschen. Denn nur mit einer glatten Wasseroberfläche würde die Spiegelung aus meinem Gedankenbild möglich werden. Als wir gestern spät am Abend ankamen, waren die Berge nicht einmal zu erahnen, dichte Sturmwolken versperrten jegliche Sicht. Allerbeste Aussichten also.
Zehn Minuten später haben wir unsere Ausrüstung geschultert und durchschreiten die frostig-nebelige Nacht. Die fahle Mondscheibe leuchtet zögerlich durch seichte Wolken und schenkt nur spärliches Licht. Zum Glück sind die düsteren Wolkenberge von gestern aber verschwunden. Im Licht unserer Stirnlampen queren wir den wilden Alpeinerbach. Ein Wegschild weist in Richtung Starkenburger Hütte. Nach einigen Minuten zweigt der Weg links in Richtung Rinnensee ab. Durch die Südseite soll es von hier ungefähr 2 Stunden bis zur Abzweigung Rinnenspitze dauern.
Wir sind vielleicht eine halbe Stunde unterwegs. Schweigend, wie in Trance, wir sind eins mit dem Weg und der Nacht geworden. Plötzlich stockt mir der Atem. Am Himmel ist riesiger, farbiger Ring um den milchigen Vollmond zu sehen. Es muss ein 22°-Halo sein. Ein seltenes Naturschauspiel, dass wir fasziniert für einige Minuten verfolgen. Schon überlege ich das Stativ aufzubauen. Da es aber viel zu neblig ist und wir auch unter Zeitdruck stehen, belassen wir es bei der Erinnerung und laufen bald weiter.
Zwei holprige Stunden später. Irgendwann endete der Weg und ging in ein schroffes Geröllfeld über. Einmal mehr mussten wir feststellen, dass Zeitangaben auf Wegweisern im Hochgebirge ziemlich relativ sind. Seit gefühlten Ewigkeiten nur Geröll, nichts als Geröll. Von einem See ist weit und breit nichts zu sehen. Das letzte Schild liegt lange zurück. Zu lange für meinen Geschmack. Ich wünschte, wir hätten uns schon längst ein Garmin zugelegt. Zwar habe ich meine Kamera mit einem GPS-Sender ausgestattet, die Koordinaten allein nützen uns jetzt aber auch wenig. Behutsam weicht die Dunkelheit dem Zartrosa des neuen Tages. Der Nebel hat sich aufgelöst. Und plötzlich passiert es: die ersten Bergspitzen beginnen glutrot zu leuchten.
Langsam werde ich nervös, befürchte, dass wir zu spät ankommen. In der Landschaftsfotografie ist nichts so wichtig wie der richtige Moment. Schneller, wir müssen schneller laufen. Endlich taucht Hoffnung in der Ferne auf. Auf dem verwitterten Holzschild lesen wir die erlösenden Lettern: „Rinnenspitze – Rinnensee“. Wir nehmen die Abzweigung nach links. Von dort seien es noch 5 Minuten zum See, hatte mir der Hüttenwirt gestern Abend beim Bergrüßungskräuter erklärt.
Über klobige, scharfkantige Gesteinsplatten stolpernd erreichen wir gerade noch rechtzeitig das morgendliche Naturschauspiel. Beim ersten Blick auf den Rinnensee wird mir sofort klar, warum er als einer der schönsten Bergseen Tirols gilt. Das Leuchten auf den der Schneehauben der Dreitausender lässt schon nach.
So schnell wie zwischen dem losen Geröll eben möglich, baue ich das Stativ auf, bringe Kamera, Verlaufsfilter, Fernauslöser in Position. Die Kulisse macht die Strapazen der letzten Stunden vergessen. Die seidenglatte Wasseroberfläche reflektiert majestätisch die Gletschergipfel der Alpeiner Alpen im Morgenrosa. Von links nach rechts spiegeln sich die Kräulspitze (3.303 m), die östliche und westliche Seespitze (3.416m und 3,355 m) und die Ruderhofspitze (3.474 m).
Keine Viertelstunde später weicht der romantische Zauber der Klarheit des beginnenden Tages. Die ersten Sonnenstrahlen berühren das stille Wasser, die Spiegelung zerfließt in kleinen Wellen. Das sanfte Morgenpastell wandelt sich in ein grelles Hellblau. Fotografieren macht jetzt keinen Sinn mehr, zu stark die Kontraste, zu gleißend das Licht.
Es ist 6 Uhr. Erschöpft, aber glücklich, lassen wir uns die erste Jause des Tages schmecken. Saugen die erhebende Szenerie förmlich in uns auf. Es sind diese Momente, für die ich die Landschaftsfotografie liebe. Der atemberaubende Ausblick belohnt für den nächtlichen Aufstieg, schenkt unmittelbar neue Kraft. Die brauchen wir auch, denn heute Abend werden wir bereits auf der nächsten Hütte erwartet. Auf 1.977 Metern übrigens..
Am Horizont tauchen die ersten Wanderer auf. Wir erwidern ihr fröhliches Winken.
Aufnahmedetails:
Nikon D800, GND-Filter (Lee) 0.9, Polfilter; f/11, 4 Sekunden, 18 mm