Als frischgebackener Abiturient habe ich das erste Mal die erquickende Luft der großen weiten Welt geschnuppert. Damals durfte ich zusammen mit einem guten Freund die Schönheit der Kanaren aus erster Hand kennen lernen. Sein Vater nämlich hatte seinerzeit den wohl besten Job der Welt: er war der Inselpfarrer auf Gran Canaria. Seine Gemeinde, bestehend hauptsächlich aus deutschen Auswanderern, befand sich Playa del Inglés, bekannt für die kilometerlangen Traumstrände und die strahlend weißen Sanddünen von Las Palomas. Seine von der Kirche gemietete Finca lag inmitten des touristischen Epizentrums. Das war uns gerade Recht, galt unser Interesse damals doch vor allem Sonnenbaden an den weißen Stränden und durchfeierten Techno-Nächten in hippen Clubs. Aber auch das Fernweh war geweckt. Seitdem haben mich die Kanarischen Inseln immer wieder angezogen. Zuletzt stattete ich dem Surfermekka Fuerteventura einen Besuch ab und war einmal mehr verzaubert. Das ist nun schon wieder vier Jahre her.
Umso mehr freute ich mich auf ein Wiedersehen mit dem Archipel. Zu Ostern war es endlich soweit. Dieses Mal hatten wir uns vorgenommen, Teneriffa und La Gomera zu erkunden. Um erstere Insel hatte ich lange einen weiten Bogen gemacht. Teneriffa fand ich immer zu mainstream, zu sehr vom Massentourismus überrannt. Auf der anderen Seite habe ich von anderen Fotografen-Kollegen auch schon viel Positives über die Insel gehört: Teneriffa sei extrem abwechslungsreich und könne jenseits der Touristenzentren mit einer spektakulären Natur aufwarten. Also beschäftigte ich mich doch einmal etwas intensiver mit der Destination. Und bei genauerem Hinsehen stellte ich fest, dass es zwar den Massentourismus zweifelsohne gibt. Dieser konzentriert sich aber auf wenige Hot Spots, meist an der sonnenverwöhnten, ruhigen Südküste. Es gibt aber auch genauso viele Ecken, in die sich kaum ein Mensch verirrt und wo man durchaus noch so etwas wie Wildnis erleben kann.
Einer dieser vergleichsweise unberührten Flecken ist die Nordostküste Teneriffas. Hier gibt es keine feinen Sandstrände, die zum Baden einladen. Die Küste ist steinig und zerklüftet, das Wetter oft ziemlich launisch und die Wellen meist ziemlich hoch. Um hierher zu kommen muss man sich auch erst einmal auf den weiten Weg durch das wilde Anaga-Gebirge begeben. Über nicht enden wollende, schwindelerregende Serpentinen steigt man langsam bis über die Wolken hinauf. Wenn man dann die höchsten Kämme überwunden hat und weit in Richtung Norden blicken kann, eröffnen sich spektakuläre Ausblicke, die man nicht unbedingt mit Teneriffa in Verbindung bringt. Saftig grüne, schroffe Bergketten, die stark an Hawaii erinnern und steil in weiten Flanken bis ins Meer hineinragen. An deren Ende entdeckt man erst beim zweiten Hinsehen kleine, versteckte Ortschaften, deren weiß getünchte Häuser wie Miniaturen in einer LEGO-Welt wirken. Eines dieser verschlafenen Küstendörfchen ist Almaciga, wo wir uns für mehrere Tage eine Gastwohnung angemietet hatten. Denn Hotels – die gibt es hier nicht. Abgesehen von zwei Restaurants, die aber bereits am späten Nachmittag schließen, einem Tante-Emma-Laden mit dem Allernötigsten und einer Dorfkneipe gibt es auch keine touristische Infrastruktur. Und damit auch so gut wie keine Touristen. Und das ist auch gut so.
So waren wir dann auch die einzigen Menschen, die sich an diesem feuchtfröhlichen Abend an den Strand noch etwas weiter nordwärts verirrt hatten. Das monotone Rauschen der meterhohen Wellen und das Zotteln des Orkans an unseren Kapuzen waren die einzigen Geräusche weit und breit. Die Einsamkeit war fast etwas surreal, nachdem wir uns noch am Vorabend zusammen mit tausenden anderen in das quirlige Nachtleben der Inselhauptstadt Santa Cruz geworfen hatten.
Nun teilten wir uns die Kulisse nur mit den gewaltigen, steinernen Monolithen. Wie Wächter zu einer anderen Welt bauten sie sich majestätisch vor uns im Atlantik auf. Ein Fotomotiv wie aus dem Lehrbuch.
Um eine spannende Perspektive auf die geheimnisvolle Kulisse zu bekommen, musste ich wohl oder übel durch die ziemlich hoch wütenden Atlantikfluten auf eine kleine vorgelagerte Felsinsel waten. Als ich ankam, war ich schon bis zu den Knien nass. Ich machte einige Testschüsse und hoffte, dass sich die düsteren Wolken etwas auflockern würden. Eigentlich war jetzt schon goldene Stunde. Doch kein einziger Sonnenstrahl schaffte es, sich seinen Weg durch die dichte Wolkendecke zu bahnen. Dafür rollten permanent beängstigend hohe Brecher an. Die kleineren Felsen wurden immer wieder von der Brandung verschluckt. Es war es nur eine Frage der Zeit, bis auch mich dieses Schicksal ereilen würde. Erst von hinten und dann noch einmal von vorne wurde ich von einer wahren Killerwelle erwischt. Meine Ausrüstung und ich waren bis auf den letzten Faden durchnässt. Immerhin ist es mir gelungen, mit der einen Hand das Stativ festzuhalten und mit der anderen mich selbst an einem glitschigen Felsen. Zum Glück ist Karolin vorsichtshalber am Ufer geblieben. Kurz darauf hat sie es aber schließlich auch noch geschafft, einmal auf alle Vieren ein erfrischendes Bad im Atlantik zu nehmen.
Obwohl wir nun klitschnass waren und der wütende Wind den Aufenthalt nicht gerade angenehmer macht, harrten wir aus. Ich wollte die Hoffnung noch nicht aufgeben, dass sich rechtzeitig vor Sonnenuntergang doch noch etwas Licht zeigen würde. Und tatsächlich – plötzlich passierte es: wie von Zauberhand öffnete sich der dichte Wolkenschleier. Das Abendrot tauchte die Wellen und die Formationen vor uns in mystisch-feurige Töne. Das Licht- und Schattenspiel hauchte den Felstürme Leben ein, modellierte sie plastisch. Ich frohlockte innerlich und versuchte keine Zeit zu verlieren. Viele Aufnahmen waren es nicht, schließlich war es fast dunkel und ich musste entsprechend lange belichten. Nach nicht einmal zwei Minuten war das Spektakel dann auch schon wieder vorbei. Da ich ohnehin völlig durchgeweicht war, trat ich den Rückweg auf kürzestem Wege direkt durchs Meer zum Strand an. Durchgefroren, aber doch zufrieden und euphorisiert von diesem kurzem Schauspiel der Natur.