„готовься к посадке! – Fertigmachen zur Landung!“ tönt es aus den Lautsprechern der Aeroflot-Maschine. Gespannt wie ein Flitzebogen schaue ich aus dem Bullauge des Flugzeugs. Unter uns glitzern die türkisen Wellen des Pazifik in der Sonne, brechen sich an bizarren haushohen Felsformationen mitten im Meer. Am Horizont steigen symmetrische Bilderbuch-Vulkankegel aus den Wolken. Die feurigen Riesen sind eingebettet in sattgrüne leuchtende Ebenen, durch die wie in einem abstrakten Kunstwerk milchige Gletscherflüsse mäandern. Wir nehmen direkt Kurs auf die ausladende, halbmondförmige Awatscha-Bucht. Hier ist die Heimat der Inselhauptstadt Petropawlowsk-Kamtschatski, von wo aus mein Kamtschatka Reisebericht startet.
Kamtschatka! Für Naturliebhaber, Globetrotter und Fotografen klingt der Name wie Musik in den Ohren. Die russische Halbinsel spielt ganz oben mit bei den großen Sehnsuchtszielen. Mit einer der letzten wirklich wilden Landschaften unserer Erde braucht Kamtschatka sich nicht hinter Top-Fotodestinationen wie Patagonien oder Island zu verstecken. Nur ist hier viel weniger los und man muss nicht mit zig anderen Fotografen um die besten Fotoplätze buhlen. Kamtschatka stand deshalb schon lange auf der Wunschliste von mir.
Vorposten zwischen den Welten
Kamtschatka ist für uns Mitteleuropäer so ziemlich das andere Ende der Welt. Gut 9.000 Kilometer, ungefähr zwölf Stunden Flug und elf Zeitzonen trennen die russische Halbinsel von Deutschland. Kamtschatka liegt im Fernen Osten, ist der äußerster Vorposten Russlands, ja Eurasiens. Der Archipel gehört zum Pazifischen Feuerring, erhebt sich zwischen dem Beringmeer, dem Nordpazifik und dem Ochotskischen Meer. Im Süden ist Japan nicht mehr fern, im Osten grenzt sie an Alaska. In Zeiten des Kalten Krieges war Kamtschatka der östlichste Zipfel des Eisernen Vorhangs. Hier fand das einzige direkte Vis-a-vis der beiden Großmächte UdSSR und USA auf ihren eigenen Territorien statt. Aufgrund dieser exponierten Lage war die Halbinsel über 50 Jahre lang striktes militärisches Sperrgebiet. Nur einige ausgewählte Bürger der UdSSR durften das Gebiet mit einer Sondergenehmigung betreten. Erst seit 1990 ist die Kamtschatka-Halbinsel überhaupt für Besucher zugänglich, der Tourismus steckt bis heute noch in den Kinderschuhen.
Wo Einsamkeit nicht nur ein Werbeslogan ist
Wie die meisten Besucher erreichen wir die Halbinsel über den Flughafen Elisowo bei Petropawlowsk-Kamtschatski, der mit ca. 180.000 Einwohnern größten Stadt Kamtschatkas. Die Kapitale liegt malerisch an der Awatcha-Bucht, einem der weltweit größten Naturhäfen. Weniger idyllisch ist die Stadt selbst: riesige marode Plattenbausiedlungen und die ein oder andere Lenin-Statur lassen einem den Atem der Sowjetära noch ganz deutlich spüren und versprühen einen etwas morbiden Charme. Doch wir sind ja auch nicht für einen hippen Städtetrip hier. Am Horizont erinnern uns die gewaltigen, schneebedeckten Bergsilhouetten von Avachinsksy und Koryaksky daran, weshalb wir eigentlich hergekommen sind.
Unser Ziel ist die archaische Vulkanlandschaft Kamtschatkas und eine noch weitgehend intakte, echte Wildnis. Und davon gibt es hier reichlich. Mit 370.000 km² ist die ostsibirische Halbinsel gute fünf Prozent größer als ganz Deutschland. Doch gerade einmal 300.000 Einwohner verteilen sich auf die riesige Fläche, wovon der überwiegende Teil in der Inselhauptstadt lebt. Folglich trifft man unterwegs nicht viele Menschen, dafür aber auf viel Einsamkeit, Natur und Wildlife.
Rollendes Panoramafenster auf 6 Rädern
Das passende Gefährt für Wildnis-Abenteuer ist ein alter russischer KAMAZ-Truck. Dabei handelt es sich um einen umgebauten Militärtransporter, der mit 6 Rädern und Allradantrieb gerade recht für das schwierige Terrain Kamtschatkas ist. Er wird unser Wohnzimmer für die nächsten zwei Wochen sein. „Namaste“ steht vorn auf dem Truck. Vielleicht deshalb, weil unser Fahrer Andrej eine Art Local Hero ist. Er gilt nämlich als einer der versiertesten Fahrer auf der Insel und wird in den nächsten Tagen auch wahnwitzigste Strecken mit unserem motorisierten 6WD-Monster meistern.
Taiga und Tundra: wo sich Bär und Moskitos Gute Nacht sagen
Unendliche Weite. Dass das hier nicht nur eine Werbeplattitüde aus dem Reisekatalog ist, davon können wir uns gleich am ersten Tag der Tour überzeugen. Mehr als 700 Kilometer holpern wir über schnurgerade, scheinbar endlose Wellblechpisten durch die Taiga, die für Sibirien so typische Landschaft, die man aber auch in Alaska oder Nordnorwegen findet. Taiga (тайга) bedeutet auf Russisch so viel wie „undurchdringlicher, sumpfiger Wald“. Die Kulisse macht ihrem Namen alle Ehre. Stundenlang rauscht das liebliche, aber immer selbe Bild an uns vorbei: Birke, Zirbelkiefer, Birke, Zirbelkiefer. Die grüne Monotonie hat fast schon eine hypnotische Wirkung auf mich. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen, nur alle paar Stunden taucht ein kleines Dorf aus dem Nichts auf. Dann und wann wird die Fahrt unterbrochen, weil Baumstämme oder dichte Vegetation die Piste versperren. Wenn wir dann aussteigen und in den morastigen Boden einsinken, erwarten uns schon Heerscharen von blutrünstigen Moskitos, die sich hier pudelwohl fühlen. Genauso wohl wie der Braunbär, das Wahrzeichen Kamtschatkas. Wir bekommen ihn aber heute nicht zu Gesicht. Noch nicht.
Nach zehn Stunden wird der Wald plötzlich lichter, die Vegetation immer karger, die Blicke öffnen sich. Wir haben die Tundra erreicht. Irgendwann kommen wir an einem reißenden, aschgrauen Strom an. Etwas mulmig ist uns schon zumute, als Andrej unseren Truck durch die tobenden Fluten manövriert und das ganze Fahrzeug bedrohlich vibriert und gluckert, als würde es gleich in Millionen Einzelteile zerbersten. Nachdem wir diese Barriere geschafft haben, geht es dann nur noch steil bergauf.
Gelandet auf einem anderen Planeten
Als wir schließlich oben auf dem Hochplateau ankommen, wähnen wir uns auf einen anderen Planeten. Nicht von ungefähr diente die Mondlandschaft hier oben den russischen Kosmonauten als Übungsterrain für ihre Weltraummissionen. Pechschwarzer Vulkansand soweit das Auge reicht, dazwischen immer wieder unwirklich scheinende, neongrüne Moosformationen. Über uns düstere Wolken, aus denen hier und da feurig leuchtende Bergkuppen auftauchen. Begleitet von peitschenden Orkanböen und feinem Regen bauen wir unser Basecamp auf. Bevor es steht, müssen wir aufpassen, dass uns die Zeltbahnen nicht vom Wind aus der Hand gerissen werden. Ein Gutes hat der Orkan, er vertreibt zum Abend die dunklen Wolken, sodass unserem ersten Shooting nichts im Wege steht. Gut so, denn hier oben finden wir ein wahres Paradies für die Landschaftsfotografie vor.
Land aus Feuer und Eis
Mit mehr als 300 Vulkanen – 30 davon sind noch aktiv – wird Kamtschatka auch als „Land des Feuers und des Eises“ bezeichnet. Genaugenommen ist es das vulkanischste Gebiet auf dem eurasischen Kontinent überhaupt. Wirklich eine himmlische Hölle. Und wir sind mitten drin, im Naturpark Kljutschewskoi. Seit 1996 steht diese Vulkanregion zusammen mit anderen Schutzgebieten Kamtschatkas auf der UNESCO-Weltnaturerbe-Liste. Der Star ist der namensgebende Kljutschewskoi, der mit stolzen 4835 Metern höchste Vulkan Eurasiens.
Er ist nicht nur einer der größten, sondern auch einer der aktivsten Vulkane der Welt. Im Durchschnitt bricht er alle paar Jahre aus. Momentan gönnt er sich aber eine Ruhepause und wir campen direkt am Rand seiner weit auslaufenden Flanken. Nachdem wir ihn erst gar nicht zu Gesicht bekommen, weil er sich in dicke Nebelschwaden hüllt, empfängt er uns eines Morgens glühend und mit Entourage aus UFO-Wolken. Aber auch viele andere seiner insgesamt 11 vulkanischen Geschwister nehmen wir ins Visier, wie den Tolbatschik oder den Kamen.
Das ganze Gebiet ist gerade einmal schätzungsweise 5000 Jahre alt, geologisch gesehen also noch im Kindesalter und damit entsprechend aktiv. Alle paar Jahre gibt es Eruptionen, Lavaströme und Erdbeben und formen die bizarre Landschaft immer wieder neu. Die Natur zerstört und erschafft: neues Leben und eine unendliche Vielfalt von Motiven für uns Landschaftsfotografen.
Eine himmlische Hölle
Wir sehen verbrannte Erde und tote Wälder, bestaunen unzählige Vulkanschlote, die in den unglaublichsten Farben leuchten. Erleben majestätische Blicke auf schneebedeckte Vulkankegel, die mit ihrer perfekten Dreiecksform wie gemalt aussehen. Sie werden eingerahmt durch die sanft gewellten, saftig grünen Tundraberge.
Wir haben ein Tet-a-tet mit der Sibirischen Unterwelt, denn auch unter der Oberfläche hat Kamtschatka fotografisch einiges zu bieten. Zum einen gibt es bizarr geformte Lavahöhlen, die sich bei den letzten Eruptionen durch flüssiges Magma gebildet haben. Eine andere unterirdische Attraktion sind die blau schimmernden, tropfenden Eishöhlen unter den vergletscherten Vulkanen. Beides ideale Spots, um unseren Fotos mit etwas Lightpainting einen speziellen Touch zu verleihen.
Auch wenn es scheint, als wäre wir direkt in der Unterwelt gelandet, treffen wir immer wieder quitschfideles Leben aus der Tierwelt Die allgegenwärtigen Ziesel erfreuen uns immer wieder mit ihren frechen Späßen. Hier und da pfeift ein Murmeltier aus seinem Erdloch. Der listige, aber hübsche Schakal schleicht um unsere Zelte. Und schließlich treffen wir auch auf das Wahrzeichen Kamtschatkas: der Sibirische Braunbär geht mehrmals auf Tuchfühlung mit uns, zum Glück immer in gebührender Entfernung.
Geyire und Farbfeuerwerk
Nach einigen Tagen reisen wir in eine andere Region im Süden Kamtschatkas. Wieder geht es hunderte Kilometer durch die unendliche Taiga. Das ist es uns aber wert, denn eine Trekkingtour in das Innere des Vulkans Mutnowski gilt vielen Kamtschatka-Reisenden als einer der Höhepunkte. Dieses Gebiet ist vulkanisch äußerst aktiv, überall zischt und raucht es. Holpernd geht es über Blocklavaströme und Schneefelder bis direkt zum Fuß des 2323 m hohen Vulkans.
Über eine Schneise in der Kraterwand betreten wir das Innere des Kraters. Aus Öffnungen im Gletscher steigen gewaltige Wasserdampfsäulen in den subarktischen Himmel. Und noch tiefer, in diese von Feuer und Eis gestaltete Welt, führt uns der Pfad hinein bis zu den Fumarolenfeldern, zu bunten Säurepools mit giftig-grünen Schwefelablagerungen und blubbernden Schlammvulkanen. Den Abschluss des Trekkings bildet der hinterste Kratersee, dessen schwefelsäurehaltiges, türkises Wasser durch kunterbunte Wände eingerahmt wird und in den ein Hanggletscher kalbt. Auf der anderen Seite klettern wir über Seile hinauf in schwindelerregende Höhen und blicken direkt hinein in den dampfenden Krater. Zu Sonnenuntergang besuchen wir noch einen Canyon in den ein gut 200 Meter hoher Wasserfall in die Tiefe rauscht.
Nachtwanderung und Abschied von ganz oben
Die letzte Nacht in der Wildnis ist ziemlich kurz und auch ambitioniert. Wir wollen nämlich noch den Vulkan Gorely erklimmen, der nur durch ein Tal getrennt auf der anderen Seite liegt. Dazu haben wir uns zu einer „kleinen“ Nachtwanderung verabredet. Um 2 Uhr morgens schrillt gnadenlos der Wecker durch die Einsamkeit. Es ist stockfinster, nebelig und furchtbar kalt. Ich torkle vor Müdigkeit. Nicht gerade die besten Voraussetzungen, um den ziemlich steilen Weg zum Krater auf gut 1.900 m hinaufzuwandern.
Wie in Trance schraube ich mich mit meinem Fotorucksack den gerölligen Bergwanderweg nach oben. Schier endlose Serpentinen, über uns die Sterne und im Halbtraum frage ich mich, warum ich mir das eigentlich immer wieder antue. Während meine bessere Hälfte unten im Zelt gemütlich im kuschligen Schlafsack schlummert, laufen mir die Schweißtropfen über die Augenringe. Na hoffentlich lohnt der Aufwand zu unchristlicher Stunde wenigstens, denk ich bei mir und muss zusehen, dass ich beim Träumen nicht ins Trödeln gerate. Wir müssen uns nämlich sputen.
Gut drei Stunden und über tausend Höhenmeter später. Ein Blick auf die Uhr zeigt, wir kommen wir gerade noch rechtzeitig bei Tagesanbruch oben am Vulkankrater an. Eigentlich bräuchte ich für die Erkenntnis keine Uhr, die Farben der Dämmerung weisen dem Landschaftsfotografen normalerweise die Zeit. Heute aber leider nicht, denn es ist alles zugenebelt. Weitsicht: ganze 3 Meter. An Fotografieren nicht zu denken. Sollte etwa die ganze nächliche Aktion für umsonst gewesen sein?
Halb fluchend, halb betend hoffe ich, dass noch ein Wunder geschieht und nicht alle Anstrengung umsonst war. Zumal es nur diese eine Chance gibt. Denn schon heute Nachmittag verlassen wir das Vulkanzauberland wieder in Richtung Petropawlosk, von wo aus wir morgen zurück in die Heimat fliegen werden.
Und dann: der kamtschatkische Wettergott – wahrscheinlich im Form eines Braunbären – hat ein Einsehen. Als wische er mit seinen mächtigen Pranken die dichte Suppe hinfort, lichtet sich zehn Minuten später der Nebel. Die Sonne geht als glühender Feuerball auf, eingerahmt von einem riesigen purpurroten Haloring. Die nächsten 30 Minuten ändert das Licht fast sekündlich die Farbe, lässt die Wolken regelrecht brennen und taucht die urzeitliche Berglandschaft immer wieder in neue Stimmungen. Für Sekunden geben die Nebelschwaden immer wieder Blicke auf die höchsten Vulkankegel frei. Schließlich berühren die ersten Sonnenstrahlen den Boden und das Licht der goldenen Stunde zaubert neue Fotomotive.
In der Zwischenzeit grillt unser Begleiter Dima Würstschen im heißen Vulkanboden und setzt Kaffeewasser auf. Was für ein Luxus in der Wildnis und welch denkwürdiger Abschied von dieser bizarren, wunderschönen Insel aus Feuer und Eis.
Wow, was für ein schönes Reiseziel, echt spektakulär. Da muss ich irgendwann unbedingt auch mal hin 😍